Lebenssinn – Das grosse Warum
Zusammen mit Claudia Christ haben wir Angebote entwickelt rund um das Thema Sinn, im Leben, in der Arbeit, in der Führung.
Im Oktober 2021 hat die ZEIT eine Sinn-Redaktion gegründet und der Frage nach dem Lebenssinn ein eigenes Ressort gewidmet. Das ZEITmagazin wurde auf unser Angebot aufmerksam, wir hatten die große Freude, mit dem Koordinator und Journalisten Kilian Trotier für die aktuelle Ausgabe des ZEITMagazin zusammenarbeiten zu dürfen. Wir sind noch immer sehr berührt von der Empathie und dem Feingefühl, mit der Kilian Trotier Claudia und ihre Klientin bei einem Sinn-Coaching begleitet hat. Und dem großartigen Artikel, zu dem er die Eindrücke und andere spannende Recherchen verwoben hat. Vielen Dank! Wir hoffen, viele Menschen finden darin genau wie wir Inspiration.
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Damit der Mensch überlebt und sich fortpflanzen kann, werden höhere Ziele nicht gebraucht. Trotzdem liegt uns viel daran, einen Sinn zu finden. Über die Sehnsucht nach etwas, das schwer zu greifen ist Von Kilian Trotier
ZEITmagazin Nr. 52/2021
Was verbindet den spartanischen Heerführer Leonidas aus dem 5. Jahrhundert vor Christus mit der sozialistischen Freiheitskämpferin Rosa Luxemburg? Was haben der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer und der amerikanische Bürgerrechtler Malcolm X gemeinsam? Was hat die junge pakistanische Kinderrechtlerin Malala Yousafzai mit dem jüdischen KZ-Häftling Viktor Frankl zu tun? Sie alle stehen für eine Idee, die weit über ihre irdische Existenz hinausreicht. Sie alle verschrieben ihr Leben einem höheren Ziel – einem tieferen Sinn.
Darum ging und geht es diesen Menschen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Und darum geht es auch in der Praxis einer rheinland-pfälzischen Psychologin. Zwei Frauen, beide mit einer Teetasse in der Hand, sitzen einander gegenüber. Die eine ist die Coachin Claudia Christ. Die andere ihre Klientin, die hier Sophie heißen soll. Sophie ist Mitte 30, hat eine kleine Tochter, war gerade in Elternzeit, hat davor in einer Kita gearbeitet und sucht jetzt etwas, das ihr mehr Erfüllung gibt. Ihr Leben war nicht schlecht, aber das reicht ihr nicht mehr. Sie will etwas anderes machen, mehr erreichen, einen größeren Einfluss auf die Welt haben, in der ihre Tochter aufwächst. Bloß, wie? Darauf will sie hier Antworten finden.
Gleich zu Beginn erzählt Sophie von einer Freundin, die gerade an Brustkrebs gestorben ist. Nach der Diagnose blieb ihr ein halbes Jahr. „Sie hatte eben erst losgelegt als Selbstständige, und ich habe gedacht: Geil, die packt an“, sagt Sophie. Doch dann musste sie mit ansehen, was es bedeutet, aus dem Leben gerissen zu werden. Das macht ihren eigenen Wunsch nach Veränderung noch dringlicher.
Es ist eine sehr private Szene – aber sie sagt viel aus über den Zustand unserer Gesellschaft. Claudia Christ, die sich als eine von wenigen Psychologinnen in Deutschland auf das Thema Sinnfindung spezialisiert hat, bekommt dauernd neue Anfragen von Firmen und Privatpersonen, bis zum kommenden Sommer ist ihr Kalender so gut wie dicht. Die Pandemie rüttelt an Gewissheiten und vermeintlichen Sicherheiten. Und etwas, das ohnehin schon in vielen brodelte, bricht nun deutlich hervor, die große Frage: Welchen Sinn hat mein Leben und das der anderen? Ratgeber und Coaching-Angebote boomen, ob in Buchform oder als Podcast. Körper und Geist werden mit Yoga und Meditationen geweitet. Die Suche nach der eigenen Persönlichkeit und ihrem Ort in der Welt ist allgegenwärtig.
Sophie, die Sinnsucherin aus Rheinland-Pfalz, treibt besonders die Zerstörung des Erdklimas um. Sie will unbedingt etwas unternehmen. „Ich bin doch für meine Tochter verantwortlich“, sagt sie.
„Was bewegt dich noch?“, fragt Claudia Christ.
„Ich will mir ein Umfeld aufbauen, das in die gleiche Richtung geht. Aber ich fühle mich immer wieder aufgehalten, als ob jemand sagen würde: Das geht jetzt zu weit, Sophie.“
Sie streckt ihre Hand aus und macht eine Geste, als packe sie jemanden an der Kapuze und halte sie fest. Sie erzählt von Angehörigen in Russland, die nichts verstünden, wenn sie ihnen erkläre: Ihr habt gelernt, dass Mehrhabenwollen etwas Gutes ist, aber das solltet ihr über den Haufen werfen, wenn ihr unsere Umwelt retten wollt. Und von Freunden, die wollen, dass sie so bleibt, wie sie ist.
Der Wille zur Veränderung kann für andere beängstigend sein, das erlebt Sophie gerade. Um etwas zu verändern, muss man zwar nicht gleich wie König Leonidas sein Leben im Kampf für sein Land opfern, aber man muss bereit sein, das Gewohnte hinter sich zu lassen, sich trauen, neues Terrain zu betreten.
Claudia Christ hört zu und sagt schließlich: „Eine der zentralen Fragen könnte sein, wie du die Liebe und Zuneigung jener Menschen, von denen du dich zurückgehalten fühlst, als Ressource nutzt. Stell dir vor, du bist nicht horizontal, sondern vertikal unterwegs. Nicht in die Weite, sondern in die Höhe. Du musst dabei niemanden zurücklassen, sondern du baust auf einem wertvollen Fundament auf. Ohne all die Menschen wärst du doch heute gar nicht in der Lage, dich verändern zu können.“
Sophie nickt. „Danke“, sagt sie, „das hilft.“
Es ist die erste Sitzung der beiden. Sie müssen heute noch keine Antwort finden. Sie eröffnen Perspektiven und schauen, ob sich im Nebel eines existenziellen Unbehagens die Umrisse eines neuen Lebens abzeichnen. Sie beginnen, wie jede Sinnsuche beginnt.
Wer definitiv glaubt, Sinn
gefunden zu haben, der wird
für andere mitunter zum Problem.
Sinn. Das Wort trägt eine gewaltige Dynamik in sich. Die indogermanische Wurzel des Begriffs liegt im Verb sent, was so viel bedeutet wie „gehen, reisen, eine Richtung nehmen“. Sinn „hat“ man also nicht, man erlebt ihn nur, wenn man in Bewegung ist. Das Unabgeschlossene macht ihn aber auch so schwer zu greifen. Sinn bleibt eine lebenslange Sehnsucht. Wer definitiv glaubt, ihn gefunden zu haben, wird für andere mitunter zum Problem. Er wird zum Rechthaber mit einem hermetisch abgeschlossenen Weltbild oder – wenn es schlimm kommt – zum Fundamentalisten.
Tatjana Schnell ist Psychologieprofessorin und erforscht das Verhältnis der Deutschen zum Sinn. Die 50-Jährige schaltet sich zum Videoanruf aus Innsbruck zu, wo sie mittlerweile lebt und lehrt. Eine freundliche Frau, die schnell redet, so viel hat sie zu erzählen. Seit über 20 Jahren geht sie Themen wie Sinnerleben, Sinnkrisen und dem Sinn in der Arbeit auf den Grund. Sie macht groß angelegte Studien, führt Interviews und Befragungen durch. Man könnte sagen: Sie ist die Vermesserin des Sinns.
„Nur ein knappes Fünftel der Deutschen macht sich keinerlei Gedanken zu diesem Thema“, sagt Tatjana Schnell. Vor 15 Jahren gaben in einer repräsentativen Umfrage noch über 30 Prozent an, „existenziell indifferent“ zu sein. Immer mehr Deutsche haben also eine Vorstellung davon, was sie für ihr Leben wichtig und richtig finden, oder sind bewusst auf der Suche danach. Bei 70 Millionen Erwachsenen in Deutschland sind das etwa 56 Millionen Menschen.
Und wann sehen die Sucher ihr Leben als sinnvoll an? In den zahlreichen Studien, die Schnell und ihr Team über zwei Jahrzehnte durchgeführt haben, wiederholten sich Antworten, ließen sich gruppieren und systematisieren. Am Ende formulierte Schnell vier Voraussetzungen für ein sinnerfülltes Leben.
Früher fanden die Menschen
Lebenssinn im Glauben, heute
hat jeder seine eigene Vorstellung davon.
„Menschen brauchen das Gefühl, dazuzugehören, sie wollen einen Platz auf dieser Welt haben“, sagt Schnell. Das können Familie und Freunde leisten, aber auch eine Religion oder politischer Aktivismus. Das Leben wird außerdem als sinnvoll betrachtet, wenn man eine Richtung hat, die man verfolgt, oder eine Aufgabe. „Das Gegenteil davon ist, nicht zu wissen, was man will“, sagt Schnell. Drittens müssen Menschen spüren, dass ihre Weltanschauung kohärent und stimmig ist. Und schließlich erkennen Menschen einen Sinn in ihrem Leben, wenn sie erfahren, dass ihr Handeln Konsequenzen hat, also auf Resonanz stößt.
Wenn Tatjana Schnell die Teilnehmer ihrer Studien fragte, was ihrem Leben Sinn gibt, kamen schnell die Antworten: Familie, Liebe, Freunde, die Welt sehen. Die Forscherin grub tiefer. Warum Liebe – was steckt dahinter? Warum in die Ferne reisen – was wird hier ausgelebt? Sie wollte an die Wurzel, weil die Begriffe unterschiedlich verstanden werden. Familie zum Beispiel: Für den einen bedeutet sie Nähe und Geborgenheit, für den anderen schafft sie die Möglichkeit, sich mit Geschwistern zu messen und daran zu wachsen.
Tatjana Schnell hat die Antworten mit ihrem Team gebündelt und herausgearbeitet, was Menschen Sinn gibt. Eine Sinndimension ist das Abwenden von sich selbst und Hinwenden zum Übernatürlichen, in Form von Religion oder Spiritualität. „Eine andere wichtige Dimension“, sagt Schnell, „ist das Absehen vom Selbst im Diesseits: Hier geht es um soziales Engagement, Naturverbundenheit oder darum, Erfahrungen an andere weiterzugeben.“
Bei der Selbstverwirklichung, der dritten Dimension, geht es vor allem um mich und meine Stärken. Bei der sogenannten Ordnung als vierter Dimension stehen Moral, Traditionen und Vernunft im Vordergrund. Und schließlich finden wir Sinn im Wir- und Wohlgefühl – die Sorge für uns selbst und die Menschen um uns herum ist hier zentral.
Jede und jeder hat seine eigene Vorstellung von Sinn – das zeigen Tatjana Schnells Forschungen. Einen gemeinsamen Sinnhorizont zu finden ist schwer geworden. So ist es zumindest in der individualisierten westlichen Welt. Ein modernes, vereinzeltes Verständnis von Sinn ist weit entfernt vom dem, was er über viele Jahrhunderte bedeutete.
Als sich das Christentum im Mittelalter über Europa verbreitet hatte und den Alltag der meisten Menschen prägte, war die Sache aus Sicht der Kirche klar: Der Sinn im Leben der Gläubigen war unauflöslich verbunden mit dem Sinn des Lebens – nämlich, einem allmächtigen Gott zu dienen. Zu dessen Plan gehörte jeder Mensch: Er wurde geboren und getauft. Lebte im Bewusstsein, ein Sünder zu sein und der Erlösung zu bedürfen. Bemühte sich, Gottes Willen auf Erden zu erfüllen, und starb in der Hoffnung auf das Paradies. Das hatte etwas Entlastendes: Niemand musste für sich selbst suchen, jeder war Teil des großen Ganzen. Es hatte aber auch etwas Belastendes: Der Einzelne musste sich dem vorgefertigten Plan fügen. Ausscheren hatte Konsequenzen, die Kirche war mächtig und konnte bestrafen.
Die Aufklärung rüttelte an diesem Weltbild. Und seit einigen Jahrzehnten ist in Deutschland die Zeit der christlichen Vorherrschaft endgültig Geschichte. Die Kirchen sind auf dem Markt der Sinnstiftung zu einem Anbieter unter vielen geschrumpft. Kein Wunder, dass sich heute so viele Menschen über den Sinn ihres Lebens Gedanken machen. Vermeintlich Gottgegebenes wird hinterfragt und über grundsätzliche Sinnfragen neu nachgedacht, vor allem über diese: Warum, zur Hölle, suchen wir überhaupt nach einem Sinn?
Eckart Voland hat viele Jahre als Professor für Philosophie der Biowissenschaften in Gießen gelehrt und ist Evolutionsphilosoph. Er beschäftigt sich also damit, warum der Mensch wurde, was er ist. Man könnte sagen: Voland ist Archäologe des Sinns.
Gleich zu Beginn des Telefonats schickt er eine Warnung vorweg: „Wir bewegen uns hier auf unsicherem Terrain“, sagt er. „Aber das macht die Sache ja nur spannender.“ Dann beginnt der 72-Jährige zu erklären, wie seiner Ansicht nach der Sinn entstanden ist. Das Fundament seiner Argumentation ist die Arbeitsleistung unserer Gehirne. Die soziale Intelligenz bedeutet eine Kompetenz des Menschen, die ihn von anderen Lebewesen, graduell auch den großen Menschenaffen, unterscheidet: Der Mensch kann Anteil haben am Bewusstseinszustand von anderen, der Fachbegriff dafür lautet Theory of Mind, „Theorie des Bewusstseins“. Sie besagt, dass wir mithilfe unserer Gehirne Hypothesen darüber bilden können, ob unser Gegenüber aufmerksam ist, Schmerzen verspürt oder Freude empfindet. Wir können uns in andere hineinversetzen, auch wenn das irrtumsanfällig ist.
Biologisch gesehen dürfte sich diese Fähigkeit entwickelt haben, weil sie die Mitspieler des Sozialverbands berechenbarer macht. Das können Freunde sein oder Feinde und manchmal auch Freundfeinde – Freunde bei der Futtersuche, Feinde bei der Partnersuche. Voland sieht es so: Wer darüber reflektiert, in welcher Hinsicht das Verhalten eines anderen Sinn ergibt, kann darauf reagieren. Sinn ist für Voland also nichts, was der Mensch ursprünglich in sich selbst gesucht hätte. Zunächst ging es nicht ums Selbstverstehen, sondern um das Verstehen des anderen.
Das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe stellt sich für Voland dann so dar: Der Einzelne, der die anderen beobachtet und deren Verhalten für sich einordnet, handelt in seinem eigenen Interesse, mit dem Willen zu überleben. Aus dem Handeln mehrerer Einzelner kann eine Gruppe entstehen. Diese ist besonders erfolgreich, wenn sie eine gemeinsame Identität entwickelt und kultiviert, eine politische oder eine religiöse zum Beispiel. Wenn die einzelnen Mitglieder also in ihr einen Sinn sehen und wissen: Dafür stehen wir gemeinsam ein, dafür streiten wir, dafür leben wir. Und im Zweifelsfall sogar: Dafür sterben wir.
Voland kann die Entwicklung beschreiben. Und doch hat er ein elementares Problem: Das „Wie“ lässt sich erklären – nicht aber das „Warum“. Aus evolutionärer Sicht kann er keinen Sinn in der individuellen Sinnsuche erkennen: „Sie scheint völlig überflüssig zu sein“, sagt er. „Warum sonst kommen die allermeisten Lebewesen ohne Selbstbewusstsein aus und sind biologisch trotzdem äußerst erfolgreich? In der Evolution geht es um Selbsterhaltung und Fortpflanzung – und dafür wird ein tieferer Sinn nicht gebraucht.“ Wölfe erlegen im Rudel den Hirsch, und sie halten beim Fressen ihre Hierarchien ein, aber sie suchen darin keine Bedeutung.
Das ist die Lücke, die Voland nicht zu füllen vermag. Der Mensch hat etwas entwickelt, das evolutionär nicht nötig zu sein scheint, ihn aber zutiefst ausmacht und abgrenzt von anderen Geschöpfen. Wir können nicht anders, als nach Gründen für die eigene Existenz zu forschen. Mit anderen Worten: Wir sehen in Ereignissen einen Sinn. Religionen fußen auf Erzählungen von Schuld und Erlösung, Staaten ruhen auf Gründungsmythen von Schlachten und Revolutionen. Auch im ganz persönlichen Leben deuten viele ihr Dasein als Kette von sinnbehafteten Erlebnissen.
Das beste Beispiel sind die Kennenlerngeschichten von Liebenden. So wie diese hier aus einem Internetforum: Eine junge Frau arbeitete in einem römischen Freilichtmuseum, wo es regelmäßig kleine Theateraufführungen gab, um den Leuten die damalige Zeit nahezubringen. Einmal wurde eine Hochzeit gespielt, alle Schauspieler waren da, nur die Braut fehlte. Also sprang die junge Frau ein und heiratete auf der Bühne einen Mann – den sie später auch im wirklichen Leben heiratete. Wer so etwas erlebt, kann es als Fügung deuten: Wir sind füreinander bestimmt! Kann es als Schicksal sehen: Das musste so kommen. Oder als göttlichen Willen.
Für David Hand ist es nichts davon. Für ihn ist es nur Zufall.
Hand ist Professor für Statistik und hat selbst einige Situationen erlebt, in denen er dachte: Das kann doch nicht wahr sein! Nachdem zum Beispiel sein Buch Die Macht des Unwahrscheinlichenerschienen war, wurde er von einem Autor kontaktiert, der ihm erzählte, er habe einen Roman geschrieben. Der trug den Titel Zufälle und handelte von einem Londoner Professor, der über Zufälle forscht und der am 30. Juni Geburtstag hat – dies alles traf auch auf David Hand selbst zu. Hand dachte: Ich kenne ihn nicht, er kennt mich nicht, das gibt es doch nicht. Dann besann er sich auf das, was er gelernt hatte, und dachte über Wahrscheinlichkeiten nach. Und auch wenn die Wahrscheinlichkeit minimal ist, dass jemand einen derartigen Charakter erfindet – gleich null ist sie nicht.
Hand ist einer der renommiertesten Statistiker der Welt. Gleich zweimal war er Präsident der Royal Statistical Society. Mit Sinn hat er wenig zu tun, weil er ihn nirgendwo sieht. Man könnte sagen: Er ist der Skeptiker des Sinns.
Zum Gespräch meldet er sich aus seinem Londoner Büro, ein distinguierter Herr von 71 Jahren mit akkurat zurückgelegten grauen Haaren und geschliffenen Formulierungen. „Sinn?“, sagt er gleich. „Tut mir leid, so etwas gibt es nicht. Leben ist Leben, mehr nicht.“ Hand hat viel nachgedacht und nachgerechnet zu Unwahrscheinlichem – auch zu dem, was andere Wunder nennen. Für ihn existieren sie nicht. „Wenn ein Ereignis einmal in einer Million Fälle zutrifft, denken viele: Das passiert nie. Aber das stimmt natürlich nicht. Bei fast acht Milliarden Menschen auf der Welt passiert es ganz häufig“, sagt er. Deshalb treffen sich alte Schulfreunde nach Jahrzehnten am anderen Ende der Welt wieder. Deshalb gibt es Menschen wie die Britin Diana Coke, die schon über 50 Mal bei Reisegewinnspielen von Zeitungen und Online-Anbietern gewonnen hat. Für Hand sind das zufällige Ereignisse ohne jeden Sinn, statistisch erklärbar.
Diese Haltung macht andere wütend. Hand bekommt Anrufe von Menschen, die ihn überzeugen wollen. Sie sagen: Es gibt so etwas wie Fügung, meine Frau hat nicht rein zufällig eine schwere Krankheit überlebt, obwohl die Ärzte ihr keine Chance mehr gegeben haben! Hand bleibt stets höflich. Er will den Menschen ihren Glauben nicht nehmen. Er will aber zeigen, dass seine rationale Sicht auf die Welt nicht weniger aufregend ist. Aus diesem Grund spricht er gern über den Regenbogen. Steht er am Horizont, bleiben Passanten stehen, starren in den Himmel. Sie sind berührt von seiner Schönheit. Hand findet: Der Regenbogen wird noch schöner, wenn man ihn nicht nur bewundert, sondern versteht, welch komplizierte physikalische Prozesse ihm zugrunde liegen.
Genauso sei es mit Erlebnissen, bei denen sich der Eindruck aufdrängt: Das kann kein Zufall sein! „Die Chancen sind sehr gering, dass du die richtigen Zahlen im Lotto tippst. Aber weil es unter Millionen von Möglichkeiten auch deine gibt, kann es sein, dass du der Glückliche bist“, sagt Hand. Das Gleiche gelte für schlimme Ereignisse, umstürzende Bäume, extrem seltene Krankheiten. Hand findet es entlastend, nicht nach einem tieferen Sinn suchen zu müssen. Zufall macht keine Schuldgefühle, er lehrt Demut. Man könnte nun denken, die Zerstörung jeglichen Sinns mache den Sinn im Leben des Professors Hand aus. Er sieht seinen Sinn aber darin, die Menschen vom Zwang zum Sinn zu befreien und ihnen die Angst vor einem sinnlosen Leben zu nehmen.
Nur: Wie wirkt das auf Menschen, die den unbedingten Drang spüren, nach einem Sinn zu suchen?
Sophie, die Sinnsucherin aus Rheinland-Pfalz, erzählt, wie bei ihr alles zusammenkam: Geburt der Tochter, Tod einer Freundin, Pandemie. Für sie ist die Koinzidenz der Ereignisse ein Wink des Schicksals, das eigene Leben zu hinterfragen. Professor Hand würde sagen: All die Ereignisse waren Zufall. Werden sie dadurch entwertet? Belügen wir uns mit dem Wunsch nach Sinn am Ende selbst? Ist er nur ein verzweifelter Versuch, etwas Größeres ins Leben zu projizieren, das doch nur Illusion ist?
Der amerikanische Forscher Adam Kaplin findet, diese Fragen verkennen den Zweck des Sinns. Der Psychiater ist überzeugt: Wer einen Lebenssinn sieht, dem geht es körperlich besser. Man könnte sagen: Kaplin ist der Anwalt des Sinns.
Der Professor aus Baltimore sitzt vor einer riesigen blauen Weltkugel, die er als Hintergrundbild für den Video-Anruf gewählt hat. Vorab will er eins klarstellen: Er rede nicht darüber, ob es einen objektivierbaren Sinn gebe, er halte auch keine Rede gegen die Zufallsforschung. Ihm gehe es um das Innenleben der Person, in seelischer wie körperlicher Hinsicht. Und für dieses sei es von zentraler Bedeutung, dass Menschen einen Sinn in dem erkennen, was sie tun. Dann gehe es ihnen gut. Dies belegt er mit Studienergebnissen.
Wer in seinem Leben einen
Sinn sieht, erkrankt seltener
an bestimmten Krankheiten
Alzheimer, Demenz, Schlaganfälle, Herzinfarkte – von solchen Erkrankungen sind Menschen, die einen Sinn im Leben sehen, deutlich weniger betroffen. Eine Untersuchung von 2019 hat einen Faktor ausgerechnet: Bei den über 50-Jährigen starben Menschen, die ihr Leben als besonders sinnerfüllt erachteten, zweieinhalbmal seltener an Schlaganfällen und Herzinfarkten als jene, die keinen Sinn darin sahen. Schon 2010 war eine andere Untersuchung zu Alzheimer zum gleichen Ergebnis gekommen: Die Forscher befragten über einen Zeitraum von sieben Jahren 900 gesunde Bewohner von Senioreneinrichtungen im Großraum Chicago nach dem Sinn in ihrem Leben. Die Sinnerfüllten erkrankten in diesem Zeitraum fast zweieinhalbmal seltener.
Kaplin nennt die Ergebnisse „revolutionär“ und hat eine medizinische Erklärung dafür. Vereinfacht gesagt, lautet sie so: Seine Forschungen mit Multipler Sklerose und Depressionen zeigen, dass chronischer Stress – und vergebliche Sinnsuche ist chronischer Stress – zu einem chronisch hohen Cortisolspiegel führt. Cortisol ist ein Hormon, das Entzündungen auslösen kann, die wiederum zu den genannten Erkrankungen führen können. Ist der Cortisolspiegel niedrig, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankungen ausbrechen, geringer.
Es gibt allerdings Ungewissheiten. Die Studien weisen Korrelationen aus, aber keine Kausalitäten. Es ist also nicht gesichert, dass Sinnerfüllung der entscheidende Grund dafür ist, dass Menschen von schweren Krankheiten verschont bleiben. Kaplin sieht das Problem, er forscht mit anderen Wissenschaftlern daran, aber schon jetzt ist er sicher, dass der Sinn Menschenleben retten kann. Für ihn ist der Sinn eine sträflich unterschätzte Medizin. Bloß lässt sich Sinn weder pflanzlich noch synthetisch herstellen. Man kann ihn nicht verabreichen und nicht impfen. Kaplin sieht auch hier eine Lösung: „Unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe besteht darin, Hilfsangebote bereitzustellen, am besten für jeden Einzelnen.“ Geht es nach ihm, sollte in Schulen darüber gesprochen werden, worin man seinen Sinn im Leben findet, auch in Krankenhäusern und Altenheimen. Er fordert eine Reha für psychisch Erkrankte, in der sie über den Sinn ihres Lebens nachdenken. Und er will Modelle wie das der Psychologin Claudia Christ, die Sinnsuchende in ihrer Praxis coacht, einführen.
Für die Gespräche könnten als Ausgangspunkt die Studien der Psychologieprofessorin Tatjana Schnell dienen: Haben Sie das Gefühl, Ihren Platz in der Welt gefunden zu haben? Wenn nicht – wonach sehnen Sie sich? Welcher Typ Sinnsucher sind Sie: Suchen Sie das Übernatürliche? Oder die Erfahrung, etwas an andere weiterzugeben?
Adam Kaplin hat das mit dem Weitergeben schon ausprobiert. Vor einigen Jahren bat er einige seiner Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose, ihm einen Gefallen zu tun. Sie sollten sich um Patienten kümmern, bei denen Multiple Sklerose frisch diagnostiziert worden war. Das überforderte einige zunächst, es fiel ihnen schwer, etwas für andere zu tun, obwohl sie doch selbst litten. Doch mit der Zeit änderte sich das bei den meisten. Sie wurden sicherer, wuchsen in die Rolle hinein, waren stolz auf sich. Anders formuliert: Sie sahen einen Sinn in dem, was sie taten. Sie fühlten sich wohler.
„Der Glaube kann Berge versetzen“, heißt es in der Bibel. Kaplin glaubt: Der Sinn kann das auch. Er hat ein Vorbild, das gezeigt hat, wie das aussehen kann: Viktor Frankl. Frankl, 1905 in Wien geboren, arbeitete als Neurologe und Psychiater und begründete die sogenannte Dritte Wiener Schule der Psychotherapie. Während Sigmund Freud im Willen zur Lust den Antrieb des Menschen sah und Alfred Adler im Willen zur Macht, bildete für Frankl der Wille zum Sinn den Kern des menschlichen Wesens.
Also baute er Beratungsstellen für Jugendliche auf und betreute als Oberarzt im Psychiatrischen Krankenhaus in Wien zwischen 1933 und 1937 jährlich bis zu 3000 suizidgefährdete Frauen. Seine Form der Therapie nannte er Logotherapie, an das griechische logos angelehnt, das „Wort“ oder „Sinn“ bedeutet. Frankl war davon überzeugt, dass der Mensch eine einzigartige Fähigkeit besitzt: Er kann Sinn und deshalb Hoffnung spüren. Daran hielt er auch noch fest, als die Nazis die Macht übernahmen. Frankl war Jude und in verschiedenen Konzentrationslagern interniert, er überlebte als Einziger aus seiner Familie. Seine Frau, seine Mutter, sein Vater, sein Bruder, alle ermordet. Nach dem Krieg schrieb Frankl ein Buch: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Es wurde ein internationaler Bestseller.
Darin erzählt er von den Lagern und berichtet, wie er jeden Tag aufs Neue versuchte, sich gegen die Selbstauflösung zu schützen: indem er mit den Geschundenen um sich herum umging wie mit seinen Patientinnen. „Man musste also den Lagerinsassen das ›Warum‹ ihres Lebens, ihr Lebensziel, bewusst machen, um so zu erreichen, dass sie auch dem furchtbaren ›Wie‹ des gegenwärtigen Daseins, den Schrecken des Lagerlebens, innerlich gewachsen waren und standhalten konnten“, schrieb Frankl.
Kaplin glaubt, dieser Auftrag, den Frankl verspürte, habe ihm im Überlebenskampf geholfen.
Oft wird Kaplin, der Anwalt des Sinns, gefragt, ob denn nicht auch Glück und Freude wichtig seien, um gesund zu bleiben. Auch da zitiert Kaplin gerne Frankl: „Es ist nicht das Hauptanliegen des Menschen, Freude zu erreichen oder Schmerz zu verhindern, sondern in seinem Leben einen Sinn zu sehen.“ Glück, das sei etwas Tolles, sagt Kaplin. Aber er hält es für überbewertet.
Glück, das ist manchmal nur ein flüchtiger Moment. Der Sinn bleibt.